Radtouren im Klützer Winkel kommen der Beinkraft wie der Bildung zugute: Im hügeligen Hinterland der Ostsee können Sie überraschende Erkenntnisse gewinnen, zum Beispiel über Londons berühmteste Adresse oder den Schriftsteller Uwe Johnson.

Um Missklang vorzubeugen zunächst ein Wort an all jene, die neben sportlicher Betätigung an korrekter Aussprache interessiert sind: Es ist ein norddeutsch-langes ü, das ins Städtchen Klütz wie in den Klützer Winkel gehört, ebenso lang wie das erste e im schönen Mecklenburg. Dort also, im meeecklenburgischen Klüüütz, kurz hinter dem Ortseingangsschild auf einem der beschilderten Parkplätze von Schloss Bothmer, beginnt eine Radtour mit Anspruch für Bein und Geist.

Die berühmte Festonallee führt direkt aufs Schloss Bothmer zu - eine der Top-Sehenswürdigkeiten im Klützer Winkel. Foto: Marlis Tautz
Die berühmte Festonallee führt direkt aufs Schloss Bothmer zu – eine der Top-Sehenswürdigkeiten im Klützer Winkel. Saniert wurde das Schloss übrigens vom Land. Fotos: Marlis Tautz

Sie führt durch einen Landstrich, der die Kraft hat, beruhigend zu wirken. Die Straßen scheinen schmaler als anderswo, die Alleen dichter, die Dörfer unaufgeregt, beinahe etwas aus der Zeit gefallen. Wer mag, könnte von „Entschleunigung“ philosophieren. Im hügeligen Hinterland der westmecklenburgischen Ostseeküste ticken die Uhren offenkundig weniger hektisch als anderswo. Zudem sollte sich der Radler auf interessante Bekanntschaften einstellen, so mit einem norddeutschen Grafen, der einst unter der berühmtesten Adresse Londons zu Hause war, und mit dem Werk des Schriftstellers Uwe Johnson.

Vom Klützer Winkel in die Downing Street

Schloss Bothmer kann einem Gast beim ersten Anblick durchaus die Sprache verschlagen angesichts seiner Größe und Pracht und der markanten Fassade in mildem Morgenstunden-Rosa. Umschlossen von Wassergräben und Lindenbäumen erstreckt sich das Barockensemble aus Park und 13 Gebäuden auf rund sieben Hektar Land. Es entstand von 1726 bis 1732 nach englischem Vorbild.

Reichsgraf Hans Caspar von Bothmer (1656 bis 1732) hatte im Klützer Winkel Ländereien erworben und den Bau eines Familiensitzes in Auftrag gegeben. Seinerzeit stand er im Zenit einer geradezu märchenhaften Karriere: Der älteste Sohn eines kleinen niedersächsischen Freiherren war Diplomat geworden und zum Berater des englischen Königshauses aufgestiegen. Als erster Premierminister lebte und arbeitete er in der Downing Street 10.

Respice finem - Bedenke das Ende: der Leitspruch des Reichsgrafen von Bothmer ist auch als Motto einer Radtour geeignet. Foto: Marlis Tautz
Respice finem – Bedenke das Ende: der Leitspruch des Reichsgrafen von Bothmer ist auch als Motto einer Radtour geeignet. Foto: Marlis Tautz

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Sein Anwesen in Mecklenburg sollte der Graf nie zu Gesicht bekommen, er starb in London. Bis 1945 beherbergte das Schloss neun Generationen von Bothmers. Seit 2008 gehört die Anlage dem Land Mecklenburg-Vorpommern, das rund 36 Millionen Euro in die Sanierung steckte. Neben einem Spaziergang durch den Park, wo im Sommer regelmäßig Klassikkonzerte erklingen, empfiehlt sich ein Besuch im Schloss. Der Leitspruch seines Erbauers, über dem Hauptportal in Stein gemeißelt, gibt der Ausstellung über Hans Caspar von Bothmer und seine Zeit einen Rahmen: Respice finem – Bedenke das Ende!

Eine abwechslungsreiche Radtour durch den Klützer Winkel: Nach der Abfahrt wartet schon die nächste Steigung. Foto: Marlis Tautz
Eine abwechslungsreiche Radtour durch den Klützer Winkel: Nach der Abfahrt wartet schon die nächste Steigung. Foto: Marlis Tautz

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Auch für eine Radtour genau der richtige Rat: Bedenke das Ende und entscheide am Anfang, ob der Rundkurs über knapp 36 Kilometer im Uhrzeigersinn oder dagegen verlaufen soll! Doch egal, wann Schloss Bothmer angesteuert wird, eines gehört zum Pflicht-Programm: der Gang beziehungsweise die Fahrt vom Hügel auf das Haupthaus zu. Am Wegesrand stehen geköpfte Linden Spalier. Die Festonallee, benannt nach dem französischen Wort für Girlande, gilt als Inbegriff barocker Gartenkunst und diente mehrmals als Filmkulisse, vor einigen Jahren im TV-Mehrteiler „Die Flucht“ mit Maria Furtwängler als ostpreußischer Gräfin von Mahlenberg.

Der Klützer Speicher widmet sich Uwe Johnson

Wer sich gegen die Uhr auf die Radtour begibt, rollt zunächst durch die Kleinstadt Klütz. Rollt? Rumpelt eher. Das Holperpflaster hat, wie neugierige Radler in Kürze erfahren werden, schon Geschichte geschrieben. Vorerst sind sie auf dem Bürgersteig besser aufgehoben, sofern dort keine Passanten unterwegs sind. Klütz ist winzig und ein wenig verschlafen.

An einem Sonnabend schließt der letzte Bäcker Schlag 11. Neben der Backsteinkirche, die auf einer Anhöhe thront, fällt ein rekonstruierter Backsteinspeicher auf. Er firmiert als „Literaturhaus Uwe Johnson“ und provoziert prompt die Frage, was denn der Schriftsteller Johnson (1934 bis 1984) bei aller Verbundenheit mit Mecklenburg in Klütz verloren hat.

Überraschung in Klütz: das Literaturhaus "Uwe Johnson" im Speicher Foto: Marlis Tautz
Überraschung in Klütz: das Literaturhaus „Uwe Johnson“ im Speicher

Im Speicher sind sie diese Frage gewohnt und geben unumwunden zu, dass der Literat Klütz nur vom Hörensagen kannte. Als er für sein Hauptwerk „Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“ Inspiration zum Geburtsort seiner Heldin suchte, hatte sich Johnson einige mecklenburgische Kleinstädte beschreiben lassen. Er habe Klütz, so behaupten die Klützer, zu Jerichow gemacht, und zitieren bereitwillig Belege aus dem vierbändigen Roman.

„Jerichow zu Anfang der dreißiger Jahre war eine der kleinsten Städte in Mecklenburg-Schwerin, ein Marktort mit zweitausendeinhunderteinundfünfzig Einwohnern, einwärts der Ostsee zwischen Lübeck und Wismar gelegen, ein Nest aus niedrigen Ziegelbauten entlang einer Straße aus Kopfsteinen, ausgespannt mit einem zweistöckigen Rathaus … und einer Kirche aus romanischer Zeit, deren Turm mit einer Bischofsmütze verglichen wird; lang und spitz läuft er zu, und wie die Mütze eines Bischofs hat er Schildgiebel an allen vier Stirnen.“

Klarer Fall: Kirche, Kopfsteinpflaster, kleines Nest – Klütz muss Dichters Ort sein. Zumal es etliche weitere Anspielungen in Johnsons Texten gibt: „In diesem Winkel fiel das Wunderliche nicht als wunderlich auf.“ oder „Manchmal, und öfter, benähmen sich die Jerichower als wären sie Klützer.“ Wer mehr wissen will, erkundet das Literaturhaus „Uwe Johnson“, das auch Freunden von Industriearchitektur gefallen dürfte, sind doch bei der Sanierung des ehemaligen Getreidespeichers aus dem Jahre 1890 Gebälk, Schütten, Tor- und Fensterbögen erhalten geblieben.

Fischereihafen in Boltenhagen / Ostsee © Henry Czauderna -stock.adobe.com
Idyllischer Fischereihafen im Ostseebad Boltenhagen / Ostsee © Henry Czauderna -stock.adobe.com

Alle anderen treten in die Pedale und streben der Ostsee zu, wobei ein Schlenker übers Ostseebad Boltenhagen möglich wäre. Andernfalls geht es an der Klützer Mühle vorbei nach Redewisch und dort scharf links auf den Ostseeküstenradweg. Auf einer Abfahrt kurz vor Steinbeck kommt die See in Sicht. Im Ort bietet sich ein Abstecher zum Strand an. Die nächsten Kilometer verläuft der Weg entlang der Steilküste, und der Abstieg ist verboten.

Fahrt durch das ehemalige Sperrgebiet

Auf asphaltierter Piste macht die Fahrt bergan bergab Vergnügen. Es ist geschichtsträchtiger Boden, der da unter die Reifen kommt – der frühere Kolonnenweg, Relikt aus DDR-Zeiten. Wo heute nahezu unsichtbar die Landesgrenze zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein verläuft, trennte bis 1989 der Eiserne Vorhang die beiden deutschen Staaten und die hochgerüsteten Militärbündnisse von Ost und West.

Ab Anfang der 1950er Jahre und verstärkt nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 hatte die DDR-Führung ihre Staatsgrenze Schritt für Schritt zu einer Todeszone mit Metallzäunen, Beobachtungstürmen und Selbstschussanlagen ausgebaut, um ihre Bürger an der Flucht zu hindern. Historiker haben ermittelt, dass allein im nördlichen Grenzabschnitt, und 230 Kilometer in den damaligen Bezirken Rostock und Schwerin, 27 Menschen ums Leben kamen.

Die Strecken im Klützer Winkel sind gut ausgeschildert. Foto: Marlis Tautz
Die Strecken im Klützer Winkel sind gut ausgeschildert.

In einem fünf Kilometer breiten Sperrgebiet und entlang der Ostseeküste galten strenge Verhaltensmaßregeln und Aufenthaltsbeschränkungen. Ganze Dörfer waren geschleift, missliebige Bewohner zwangsweise umgesiedelt worden. Auf der Ostsee patrouillierte die Grenzbrigade Küste, an Land die Grenztruppe. Für ihre Einsatzfahrzeuge waren Spurplatten verlegt worden, der Kolonnenweg, der nunmehr mit neuer Decke versehen einen tadellosen Radweg abgibt. Die Fahrt folgt den Schildern bis zum westlichsten Punkt der Tour, dem Dorf Brook, wo wiederum ein Strandzugang zu finden ist.

Von der Ostseeküste bis ins Hinterland

An dieser Stelle heißt es Abschied nehmen von der Ostsee und beidrehen in Richtung Hinterland. Über Warnkenhagen und Hohen Schönberg führt der Weg stetig und leicht bergan zum letzten größeren Waldstück im einst so waldreichen Klützer Winkel, dem Leonorenwald. Sein teils morastiger Untergrund bewahrte ihn vor der Abholzung zugunsten landwirtschaftlicher Nutzfläche. Die Passage nach Goldbeck fordert Mensch und Rad. Der Weg ist steinig, sodass der Radler in diesen Minuten fast wehmütig an das Klützer Kopfsteinpflaster zurückdenken dürfte.

Das Hotel Gutshaus Stellhagen wurde Mitte der 1990er-Jahre als Biohotel mit eigener Landwirtschaft und Gesundheitszentrum eröffnet. Foto: Marlis Tautz
Das Hotel Gutshaus Stellhagen wurde Mitte der 1990er-Jahre als Biohotel mit eigener Landwirtschaft und Gesundheitszentrum eröffnet.

Statt von Goldbeck aus geradewegs nach Klütz zurückzukehren, sollte Stellshagen als nächstes Etappenziel gewählt werden. Das Gutshaus lohnt die Einkehr. Ein Hamburger Unternehmer hatte es 1925 gebaut und die benachbarte Flur dazugekauft, um seinem Sohn einen landwirtschaftlichen Betrieb zu verschaffen.

Nach Krieg, Enteignung und DDR-Zeit war die Familie nach Stellshagen zurückgekehrt, hatte das Anwesen von der Treuhand ersteigert und 1996 ein Bio- und Gesundheitshotel eröffnet. Es ist weithin bekannt für vegane und vegetarische Koch- und Backkunst mit Zutaten, die aus der Region stammen und Bio-Siegel tragen. Wer auf Nummer sicher gehen will, sollte vorab klären, ob im Restaurant ein Platz zu haben ist.

Von Stellshagen zum Schloss Bothmer ist es dann nur noch ein Katzensprung, zudem ein hübscher, der unter anderem durch eine Allee aus Obstbäumen führt. Über Bothmer ist ja schon vieles gesagt. Nur zur Erinnerung: Die Festonallee ist ein Muss, und die Ausstellung „Repice finem – Bedenke das Ende“ über den verdienstvollen Reichsgrafen aus der Londoner Downing Street lohnt sich ebenfalls.

Text: Marlis Tautz