Wenige Wochen vor dem CSD in Neubrandenburg hat ein rechtsextremer Vorfall die Vier-Tore-Stadt erschüttert. Die Regenbogenfahne am Bahnhof, die für Offenheit und Toleranz ganzjährig in Neubrandenburg weht, wurde gestohlen und durch eine Hakenkreuzfahne ersetzt. Wir wollten von Marcel Spittel vom Verein queerNB wissen, wie er die Stimmung in der Stadt einschätzt – und wie sicher Meckpomm für queere Reisende ist.
Kurz vorm CSD in Neubrandenburg wurde die Regenbogenflagge auf dem Bahnhofsplatz geklaut – und jemand hat eine Hakenkreuzfahne gehisst. Wie haben Sie davon erfahren? Was sagen Sie dazu, und was macht das mit einem queeren Menschen?
An dem Morgen hörte mein Handy gar nicht auf zu vibrieren. Mich haben so viele Leute kontaktiert. Auch im Verein haben wir uns ausgetauscht. Die Flagge ist ja schon mehrmals gestohlen worden, zuletzt im Sommer 2022. Doch diesmal hat das eine andere Qualität: Eine Hakenkreuzfahne wurde gehisst. Da läuft es einem eiskalt den Rücken runter! Persönlich muss ich sofort an den Überfall im März 2019 denken, als zwei Neonazis eine Bierflasche nach mir geworfen hatten. Unweigerlich denke ich auch an die Todeslisten der rechtsextremen Gruppe „Nordkreuz“, auf der sich auch queere Vereine und Personen aus Mecklenburg-Vorpommern wiedergefunden haben.

Und ich denke daran, dass der Deutsche Bundestag 2023 zum ersten Mal sexuelle Minderheiten in den Blickpunkt gerückt hat, als den Opfern des Nationalsozialismus gedacht wurde. In einem offenen Brief hat Oberbürgermeister Silvio Witt als Reaktion auf den Vorfall daran erinnert, dass unter dem Hakenkreuz in Neubrandenburg Schreckliches passiert ist. Es macht einem Angst, wenn Leute meinen, sie könnten diese Flagge wieder hissen.
„Wir haben es mit Queerfeindlichkeit zu tun“
Sie sagen, dass die Regenbogenflagge des Öfteren gestohlen wurde. Wie ordnen Sie das ein?
Wer die Flagge abnimmt, der hat was gegen sexuelle und geschlechtliche Minderheiten. Am Bahnhof Neubrandenburg hängen auch andere Fahnen. Die wurden noch nie geklaut. Das zeigt mir, dass wir es bei diesen Taten mit Queerfeindlichkeit zu tun haben. Das müsste langsam dem Letzten klar werden.
Wie nehmen Sie die generell die Stimmung in dieser Stadt und in dieser Region wahr?
Nach dem Vorfall habe ich wieder solche Kommentare gelesen: „War ja klar, typisch Mecklenburg-Vorpommern“. Die Wahrheit ist: Ich kenne nicht viele andere Städte mit einer vergleichbaren Größe in Deutschland, wo die Stadtverwaltung ganzjährig so ein unmissverständliches Zeichen setzt. In Neubrandenburg weht an 365 Tage im Jahr die Regenbogenflagge auf einem öffentlichen Platz.

Das zeigt, wofür eine breite Mehrheit in dieser Stadt steht: Und zwar für Toleranz, Offenheit und für die Gleichberechtigung von sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten. Wir nehmen auch wahr, dass die Stimmen derer, die das nicht so sehen, lauter werden. Aber gerade beim CSD in Neubrandenburg, der in der Vergangenheit störungsfrei ablief, gehen die Menschen quer durch alle Generationen auf die Straße. Sie zeigen das wahre Gesicht von Neubrandenburg.
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„Nicht vergleichbar mit Berliner Szenebezirk“
Steckt hinter jenem reflexartigen „Typisch, Meckpomm!“ die Annahme dahinter, dass Schwule, Lesben, Transmenschen dort nicht willkommen sind? Wie sicher ist denn, mal zugespitzt, MV für queere Reisende?
Mir fällt es schwer, dazu etwas Qualifiziertes zu sagen, weil dazu belastbare Zahlen fehlen. Die Sichtbarkeit sexueller und geschlechtlicher Minderheiten ist in Mecklenburg-Vorpommern nicht vergleichbar mit einem Berliner Szenebezirk. Queere Menschen fallen auf, wenn sie in irgendein Dorf in Mecklenburg-Vorpommern kommen. Die Frage wäre für mich eher: Ist das schlecht oder ist das gut? Finden die Einheimischen das toll und zeigen Interesse, oder treten Sie einem in Ablehnung gegenüber?
Interessanter Gedanke, und wie lautet Ihre Antwort darauf?
Wir bewegen uns ja auch durch Mecklenburg-Vorpommern – und manchmal schwingt da schon ein komisches Gefühl mit, gerade wenn man Personen dabei hat, die in Drag unterwegs sind. Ja, das ist eben noch nicht überall angekommen. Aber es liegt an uns allen, das zu ändern. Der CSD in Neubrandenburg ist dafür eine gute Gelegenheit.

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„Im Dorf findet das Thema am Küchentisch statt“
Manch einer fragt sich, muss denn jetzt jede Stadt CSD feiern, reicht es nicht in Berlin, Hamburg oder Rostock. Was erwidern Sie darauf?
Aus unserer Sicht braucht es einen CSD in Neubrandenburg, weil die Themen, für die ein CSD steht und die ein CSD verhandelt, eben nicht nur Großstadtmenschen betrifft. Queere Menschen leben auch in Neubrandenburg. Gleichberechtigung ist hier genauso ein Thema wie das Selbstbestimmungsgesetz oder die Stiefkindadoption in gleichgeschlechtlichen Ehen, die auf Bundesebene diskutiert werden.
Auch die Themen Flucht und Migration queerer Menschen bringen wir zum CSD thematisch auf die Straße. Aus meiner Sicht gehören solche Diskussionen in jeden Ort. In einer größeren Stadt kommen genügend Leute zusammen, um einen CSD zu machen. In einem kleinen mecklenburgischen Dorf finden diese Themen möglicherweise am Küchentisch mit der Familie oder im Pausenraum mit Kolleginnen und Kollegen statt, das sind CSDs im Miniformat.

Heißt das für Sie, dass der CSD weniger eine Feier als vielmehr eine politische Demonstration queerer Lebensweisen ist?
Beides, für mich steht das in keinem Gegensatz. In den vergangenen Jahren war es deutschlandweit Trend, dass die CSDs immer größer wurden, und Partys auch mal im Vordergrund standen. Nach wie vor sind sie politische Demonstrationen. Wir erleben auch, dass unser CSD in Neubrandenburg ein geschützter Raum ist, den es so in dieser Region selten gibt für queere Menschen. Das ist ein Gefühl der Freiheit, was ich an diesem besonderen Tag deutlich wahrnehme.
„Unsere Fest-Adorantin trägt einen Regenbogenrock“
Spielt der 775. Stadtgeburtstag in diesem Jahr auch eine Rolle? Immerhin stand die alte Handelsstadt seit jeher für Offenheit und Vielfalt – oder liege ich da falsch?
Für uns ist klar: überall, wo Menschen leben, gibt es sexuelle und geschlechtliche Vielfalt. Es gab sie in der Vier-Tore-Stadt schon immer. Das gehört für mich fundamental zu Neubrandenburg dazu. Deshalb haben wir zum Stadtjubiläum ein besonderes CSD-Logo: Unsere Fest-Adorantin trägt einen Regenbogenrock.

Die Adoranten schmücken zwei von vier Toren der Stadt. Was wissen Sie über deren Herkunft?
Die Adorantin ist eine sagenumwobene Figur, keiner weiß so genau, wen oder was sie darstellt. Folglich haben wir da unsere eigene Interpretation reingelegt. Ein wichtiges Anliegen ist uns auch der Austausch mit unserer polnischen Partnerstadt Koszalin, die in diesem Jahr den CSD in Neubrandenburg besuchen werden. Wir blicken auch über den Tellerrand und denken an Aktivisten und Aktivistinnen unserer russischen Partnerstadt Petrosawodsk, zu denen wir aktuell keinen Kontakt haben können. Diese Bandbreite der Gefühle gehört mit zu diesem Tag und macht ihn aus meiner Sicht so besonders.
Sie haben es gesagt, CSD ist nur einmal im Jahr. Inwiefern halten Sie es für ein zweischneidiges Schwert, queere Sichtbarkeit ganzjährig zu erhöhen, da diese eben nicht nur Menschen für queere Lebensweisen sensibilisiert sondern auch Risiken in sich birgt?
Das ist genau der Punkt. Mehr Sichtbarkeit provoziert mitunter auch. Sie fördert die Auseinandersetzung mit der Thematik. Da gibt es Widerstände und Angriffe. Aber das ist es ja gerade, was den Kampf-Charakter ausmacht zum CSD, dass wir so mutig sind und auf die Straße gehen und uns nicht verstecken. Viele queere Menschen kennen es aus ihrer eigenen Biografie, sie kennen das Mobbing, sie kennen Anfeindungen, kennen es, bespuckt zu werden und Angst zu haben, dass sie verstoßen werden. Das gehört für viele leider noch zum Alltag, nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern. Aber an dem Tag, da stehen wir alle zusammen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Sirko Salka
Der CSD in Neubrandenburg findet am 19. August 2023 statt. Um 13 Uhr startet auf dem Marktplatz eine erste, vier Kilometer lange Demonstration durch die City. Nach einer Zwischenkundgebung gegen 15 Uhr setzt sich der Pride-Marsch ein zweites Mal in Bewegung. Start ist auch dieses Mal der Marktplatz der Vier-Tore-Stadt, die Demo endet auf dem Platz der Jugend mit einer Abschlusskundgebung.
Von 16 bis 23 Uhr erwartet alle Feiernden eine Info- und Kulturmeile auf dem Platz der Jugend. Es gibt ein buntes Programm, eine Podiumsdiskussion mit polnischen Aktivistinnen der Partnerstadt Koszalin und Informations- und Aktionsstände. Der CSD in Neubrandenburg endet mit einer Party im Club Scala.
Weitere Infos zum CSD in Neubrandenburg: www.queernb.de/csd